Ich war etwa zwölf, als ich zum zweiten Mal auf Cocktails stieß. In der Krimiabteilung der städtischen Bücherei Brigittaplatz stieß ich auf Dashiell Hammetts „Der dünne Mann“, eine atemverschlagende Mischung einprägsamer Charaktere und verschlungener Handlungsfäden, zusammengehalten von sa­genhaft pointierten Dialogen und märchenhaften Quantitäten zu jeder Tages- und Nachtzeit konsumierter alkoholischer Mixgetränke.
Allerdings argwöhnte ich schon damals, dass in Wirklichkeit prinzipielle Betrunkenheit nicht zwingend Voraussetzung für das permanente Produzieren lakonisch brillanter Satzjuwelen war.

Denn ein paar Monate davor war ich zum ersten Mal auf Cocktails gestoßen, ganz handfest physisch im Umfeld einer Wohnzimmer-Hausbar, die anlässlich der abendlichen Abwesenheit der Eltern eines Schulfreundes von ihm und mir einer naturwissenschaftlichen Inspektion unterzogen wurde, in deren Verlauf wir mit großem fachlichem Ernst Experimente durchführten wie „Schmecken Pfefferminzlikör, Eierkognak und Bauernobstler in zusammengerührtem Zustand weniger ekelhaft als einzeln?“

Und da schien unsere Fähigkeit, unsere Testeindrücke konzise zu artikulieren, proportional zur Anzahl der gezogenen Proben eher abzunehmen, bis dann zuletzt der Freund und ich unsere Zwischenresultate in trauter Eintracht ins Waschbecken erbrachen.

Und obwohl ich mich dann im Verlauf der Pubertät mit Alkohol an sich anfreundete, blieb das Verhältnis zu Cocktails ambivalent. Einerseits verhieß ihr Konsum so eine gewisse amerikanische 30er-Jahre-Coolness, andererseits lebte ich im Wien der 80er Jahre, in denen das Frequentieren von American Bars, insbesondere für Jugendliche, in etwa so bizarr wirkte wie das Tragen von Trenchcoat und Schlapphut.

Folgerichtig betrat ich meine erste Bar in exakt dieser Adjustierung und fühlte mich prompt wie ein im Fasching unzulänglich verkleidetes Kind.

Und als dann auch noch dieser blöde Cocktailfilm mit dem damals schon fatzkehaften Tom Cruise herauskam, war das Thema überhaupt auf Jahre erledigt.¨ Im Verlauf dieser Jahre sperrten dann aber auch in Wien die ersten Cocktailbars auf, die nicht in teuren Hotels untergebracht und von leblosen Geschäftsmenschen bevölkert waren, und diese Gelegenheit, doch einmal herauszufinden, was denn so ein Highball oder eine Margarita nun eigentlich genau war und ob man das selber mögen würde, ließ ich natürlich nicht ungenutzt. Retrospektiv beurteilt, war der Obstwürfel-, Fruchtsaft- und Papierschirmchenanteil in den Drinks dier Pionier-Bars vielleicht ein wenig hoch, aber im seinerzeit noch recht provinziellen Wien war das eine ähnliche Sensation wie der legendenumrankte rohe Fisch auf kaltem Reis, von dem man damals munkelte, dass er neuerdings angeblich von ein, zwei naschmarktnahen Japanern serviert würde.

Also besuchte ich gelegentlich Bars und lernte zwei Dinge. Erstens, dass meine auf den „Dünnen Mann“ bezogene kindliche Skepsis bezüglich der Dialogqualitäten von Menschen unter Cocktaileinfluss absolut berechtigt war.¨Und zweitens, dass ich, solange ich nicht irgendwie den Trick herausbekam, wie man einen Drink langsam konsumiert und spätestens nach dem dritten aufhört, kein Recht hatte, mich diesbezüglich über andere zu beschweren.¨Folgerichtig hielt ich zur Institution „Bar“ wieder tendenziell Abstand.

Angenähert habe ich mich daran, speziell in Gestalt der Gürtelbogenbar „Halbestadt“, dann wieder über einen denkbar großen Umweg, nämlich buchstäblich über China. 2008 nämlich begab ich mich zwecks Recherche für ein dort angesiedeltes Kabarettstück auf eine knapp dreiwöchige Reise durch die Volksrepublik, wobei ich mir im Vorfeld über Bekannte von Bekannten ein Exilösterreicher-Netzwerk strickte, aus der richtigen Vorahnung heraus, dass ich vor Ort wen brauchen würde, der mir das gerade Erlebte auch erklärt.

In Shanghai übernahm diese Bürde Markus Bernthaler, ein ­lustiger junger Burgenländer, der dort als Barkeeper in einem sehr exklusiven Restaurant arbeitete, was ihn aber ein wenig langweilte, weil die dortige Kundschaft zum Essen kam und er kaum je über das Zubereiten von Gin Tonic hinaus gefordert war. In Wien, erzählte er, sei das anders gewesen, da habe er im „Halbestadt“ gearbeitet, wo Erich, der Chef, ihm so ziemlich alles beigebracht habe, was er über sein Fach wisse, momentan aber kaum anwenden könne. Überhaupt sei das „Halbestadt“ halt eine richtige Bar, nicht so ein elefantenlederbezogener Drei-Michelin-Sterne-Quatsch wie seine hiesige Wirkungsstätte. Als ich nach Wien zurückkehrte, hatte ich nicht nur strikte Order, das „Halbestadt“ von Markus grüßen zu lassen, sondern auch zwei Flaschen Maotai im Gepäck.

Kurzer Exkurs zu Maotai: Maotai ist der definitive chinesische Nationalschnaps und wird, unter Einhaltung einer komplexen fünfjährigen Prozedur, in der gleichnamigen Stadt aus Sorghum und Weizen gebrannt.¨Er gilt als exquisit: Quing-Kaiser haben ihn bereits getrunken, Mao Tse-tung und seine Truppen haben damit nicht nur auf ihre Siege angestoßen, sondern auch ihre Wunden desinfiziert, und laut einem aktuellen Ranking liegt Maotai auf Rang acht der wertvollsten chinesischen Marken.¨Das ist das eine.¨Das andere ist, dass Westler wie ich, die am Geschmack des Maotai Geschmack gefunden haben, zu einer recht überschaubaren Minderheit zählen. Nach Nixons historischer China-Reise beschrieb der Journalist Dan Rather seinen degustativen Eindruck mit: „Flüssige Rasierklingen“. Henry Kissinger schmähte den kulinarischen Stolz seiner chinesischen Gastgeber als „tödliches Gebräu, das nur deshalb nicht als Flugbenzin verwendet wird, weil es zu leicht entzündlich ist“. Und Nixon selbst, der nach offizieller chinesischer Darstellung „sehr beeindruckt“ war, soll angeblich nach seiner Heimkehr beinahe das Weiße Haus in Brand gesteckt haben, als er seinem Stab die Stichhaltigkeit von Kissingers Sottise demonstrieren wollte.¨Auf die Kompromissformel „Maotai ist von ganz eigenem, unverwechselbarem Geschmack und Aroma“ können sich aber normaler­weise Liebhaber und Verächter gleichermaßen verständigen.¨Ende des Exkurses.

Jedenfalls ging mein Plan, mich zu meinem „Halbestadt“-Einstand gleich dadurch beliebt zu machen, dass ich den, wie ich von Markus wusste, sehr ehrgeizigen, aber in dieser Hinsicht lückenhaften Spirituosenbestand der Bar um eine Flasche vom Gala­schnaps des bevölkerungsreichsten Landes der Erde erweiterte, nur begrenzt auf.

Bar-Impressario Erich Wassicek wusste zwar die Geste zu schätzen, setzte aber, kaum hatte er an der Flasche gerochen, eine ratlose Mine auf, die ich ihn seither nie wieder im Zusammenhang mit Alkohol habe machen sehen.¨Mit der akribischen Verbohrtheit des Spezialisten machte er sich dann aber doch daran, einen Drink auf Basis meines Souvenirs zu kreieren. Zwei Stunden und mehrere Versuchsmischungen später fasste er dann die spezifische Herausforderung wie folgt zusammen: „Das Problem ist, glaube ich, dass die Drinks, egal was du für Komponenten hinzufügst, alle nach dem Zeug schmecken.“

Und so wurde der Maotai dann doch nicht ins Barsortiment aufgenommen, dafür aber fand ich mich in den folgenden Jahren einigermaßen regelmäßig in der „Halbestadt“ wieder, und als die Idee aufkam, doch eine Reportage von der anderen Seite des Tresens zu produzieren, muste ich nicht lange übers „Wo?“ nachdenken.
Und so stehen wir eines winter­lichen Nachmittags im noch nicht geöffneten „Halbestadt“, wo Erich, eben von einer auf Einladung von Bacardi ­absolvierten Fortbildungsreise aus Mexico zurückgekommen (der Mann ist, wenn er abends einmal nicht in seinem Lokal anzutreffen ist, praktisch immer auf irgendeiner hochprozentigen Fortbildungsexkursion), uns begeistert seine selbst­impor­tierten Mescals und Tequilas vorführt, unter besonderer Berücksichtigung eines von ihm selbst mit Hibiskusblüten angesetzten.
Weiters erläutert er uns sein Barkonzept („Institut für fortgeschrittenes Trinken“), den derzeitigen Trend zu historischen Drinks aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, lässt uns ein paar Dutzend Whiskys, Liköre und Bitters beschnuppern, merkt auf Nachfrage mild selbstkritisch an, dass sechs verschiedene Sorten Wermut eventuell „schon ein bissl viel und nicht unbedingt notwendig“ seien, und auch dass man hier auf der Basis der vorrätigen fünfundfünfzig Gin- und zwei Tonic-Sorten theoretisch, ohne Garnituränderungen einzubeziehen, einhundertzehn verschiedene Gin Tonic trinken könnte, sei, wie er zugebe „ein bissl eine Liebhaberei“.

Ingo stellt über seine Kamera hinweg die klassische Frage „Gerührt oder geschüttelt?“ und tritt damit eine Informationslawine unerwarteten Umfangs los. Generell, so erklärt Erich, würden Martini-Cocktails gerührt, weil man klare Flüssigkeiten, die sich gut ­verbinden, nicht zu shaken braucht, außer man ist ­US-Amerikaner und shaket sowieso alles. Allerdings werde der originale James-Bond-Drink, der Martini Vesper, als einziger geschüttelt, allerdings vorwiegend aus dem Grund, dass es halt so im Buch steht. Erschwerend komme hinzu, dass man den ganz originalen Martini Vesper eigentlich gar nicht mehr mixen könne, weil die Herstellerfirma des dazu nötigen Kina Lillet in den 80er Jahren die Rezeptur in Richtung weniger Chinin verändert habe. Allerdings habe er Cocchi Americano Aperitivo im Programm, der nach einem seit dem 19. Jahrhundert unveränderten Rezept hergestellt werde und dem originalen Kina Lillet in der Rezeptur äußerst ähnlich sei.

Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass einer eventuellen Zusatzfrage nach seit Drucklegung der James-Bond-Erstausgabe möglicherweise aufgetretenen Rezepturveränderungen beim Original-Gin (Gordon’s) eine nicht minder detaillierte Antwort zuteil würde, aber der Nachmittag ist schon fortgeschritten, und ich beginne meine kurze Einschulung. Zunächst das Barwerkzeug: Stößel, Messbecher, Shaker, Strainer, Zitruspresse, Barlöffel et cetera: Nichts davon wirkt sonderlich rätselhaft oder nur nach komplizierten Initiationsriten bedienbar.¨

Dann der Grundkurs Barordnung: hier Eis, da Muskat­reibe. Hier Sirupe und Liköre, da Wermut und Aperitife, dort Standardschnäpse. Es wird dringend empfohlen, jede einzelne Flasche SOFORT nach Gebrauch wieder an ihren fixen Platz zurückzustellen, widrigenfalls man das Expressticket in Teufels Küche bereits als gelöst betrachten dürfe. Es folgen ein paar Proberunden am Cocktailshaker: Man hält ihn vor der Brust und shaket sich eins. Im Grunde also eh so, wie man sich’s vorstellt, wenngleich ich den Verdacht nicht loswerde, dass ich mit zu viel Rohkraft arbeite, was meinem Shakestil so einen leichten, aber unleugbaren Touch Todes­sternroboter verleiht.¨Zudem beschleicht mich allmählich der Verdacht, dass mir vermutlich, hätte ich – wie ja eigentlich auch geplant – im Vorfeld tatsächlich ein, zwei Dutzend Cocktailrezepte auswendig gelernt, mir die Rolle des Barkeepers geschmeidiger von der Hand ginge. Aber andererseits: Bin ich Robert de Niro?¨In diesem Moment erkundigt sich Erich: „Bist du eigentlich dazugekommen, dir ein paar von den Grundrezepten zu merken?“¨Ich pariere unverzüglich: „Hast du eigentlich noch die Maotai-Flasche, die ich dir seinerzeit mitgebracht hab?¨Ein Schatten huscht über seine Züge: „Ah ja. Jaja. Die steht noch … wo.“¨Und so können wir, nachdem der Maotai aus seiner schmachvollen Verbannung in einem zwei Gassen weiter gelegenen Keller geholt wurde, die verbleibende gute Stunde bis zur Baröffnung mit einem weiteren Anlauf verbringen, westliche und fernöstliche Trinktradition zu einem Cocktail zu amalgamieren.¨Erich bescheinigt dem Maotai ein wenig gönnerhaft, aber in der Sache korrekt, dass er im Lauf der Jahre, die er in der halbvollen Flasche verbracht hat, „verträglicher“ geworden sei.¨Und so darf ich zu guter Letzt, erst- und vermutlich letztmals in meinem Leben, zwei Cocktails taufen: „Taming of the Shrew“ (2 cl Maotai, 3 cl Kirschbrand, 1 Dash Chocolate Bitter, 0,5 cl Zuckersirup, 1,5 cl Kakaobrand, 1 Eiweiß) und „Tiger & Dragon“ (2 cl Maotai, 3 cl Orangensaft, 1 cl Limettensaft, 1 cl Zuckersirup, 1 Dash Orangenbitter, gemörserter Ingwer; 1:1 mit Ingwerbier aufgießen).

Inzwischen ist der Rest der heutigen Belegschaft im Quasi-Familienbetrieb eingetroffen: Erichs Lebensgefährtin und Co-Chefin Konny, deren Tochter Sissi und, als Barkeeper, Malte, dessen weisungsgebundene Hilfskraft ich heute Abend sein werde. Er kostet auf meine Aufforderung hin die beiden frischkreierten Neuzugänge der Abendkarte, befindet sie mit unerschütterlich charmantem Barkeeperlächeln für „interessant“ und teilt mich zur Mise-en-place-Vorbereitung ein: Zitronen- und Limettenhälften müssen zitruspressenfreundlich zugeschnitten, Säfte, Kräuter und Ähnliches in Habtachtstellung gebracht werden.

Dann binde ich mir die coole schwarze Schürze um, stütze die Hände auf den Tresen und fühle mich wie ein richtiger Barkeeper.
Ein schönes Gefühl. Es hält bis zum Eintreffen der ersten Gäste, die unfairerweise gleich in deutlicher Überzahl antreten. Malte sagt mir Mengen und Zutaten an, und ich hacke und quetsche, messe und gieße, shake und seihe ab. Und zwar ohne Unterlass. Stundenlang.

Dem Klischee, dass Barkeeper ihren Gästen als Kummerbriefkasten und Lebensberater dienen, fehlt, so wird mir klar, jede empirische Grundlage. Aus meiner Sicht besteht der Barkeeper-Job daraus, im Akkordtempo auf Zuruf Zutaten zusammenzumischen (zugegeben, Robert de Niro hätte im Vorfeld wenigstens ein paar Rezepte auswendig gelernt), sie dann mit Eis so lange im Shaker durcheinanderzubeuteln, bis sich die eigenen Hände schockgefrostet anfühlen und das Ganze anschließend mit Aplomb in die richtigen Gläser zu seihen.

Das ist eine konzentrationsintensive und auch keineswegs unbefriedigende Tätigkeit, aber wie ich daneben auch noch jemandem, nur theoretisch, die Ohrenbeichte abnehmen sollte, ist mir ein Rätsel. Allerdings bin ich auch der Barkeeper- Standardaufgabe, hinter dem Tresen und besonders beim Shakerschütteln konstant locker, entspannt und gutgelaunt zu wirken, allenfalls in Ansätzen gewachsen.¨Dennoch werde ich am Ende der Schicht ehrenhaft entlassen.

Sollten Sie mich also einmal kennerisch nostalgischen Blicks in einer Bar antreffen, sprechen Sie mich ruhig an. Ich erzähle Ihnen dann gerne ausführlich von meiner einschlägigen Berufserfahrung. Zumindest, wenn ich bis dahin immer noch nicht herausgefunden haben sollte, wie man spätestens nach dem dritten Drink Schluss macht.

PS:¨Wenn Sie übrigens den brandneuen Cocktailkreationen „Taming of the Shrew“ bzw. „Tiger & Dragon“ zum internationalen Druchbruch verhelfen wollen, fragen Sie doch ruhig einmal in der „Halbestadt“ danach.
PPS:¨Kleiner Tipp: Ihre Chancen steigen beträchtlich, wenn Sie Ihre eigene Maotai-Flasche mitbringen.

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