Jahrzehntelang erschallte ja flächendeckend die Kritik, dass die einfach nicht mehr wie früher, sonder vielmehr wie in rote, verzehrbare Luftballonhüllen abgefülltes Leitungswasser schmecken. Das Beklagen des verlorenen Aromas galt irgendwann, so berechtigt es auch war, als Ausweis genuiner Unoriginellheit, so dass stilbewusste Konversationsdandys ein Gespräch eher mit einer Bemerkung über das Wetter oder die jüngste Wetten-Dass-Sendung eröffnet hätten, als zum tausendsten Mal eine abschätzige Bemerkung über die beklagenswerte Charakterlosigkeit dieser Retortenfrüchte zu machen.

Mittlerweile aber prangen bekanntlich in der Paradeissaison selbst Supermarktgemüseregale im Schmuck gelber, grüner, schwarzer oder gestreifter Raritäten mit bizarren Oberflächen und einer Grössenverteilung zwischen geschwollenem Kindskopf und Kugellagerkugel, ein schöner Beleg dafür, dass selbst ein normalerweise nur als nahrungsmittelindustrielle Propagandanebelgranate verwendeter Satz wie: „Der Konsument bestimmt doch bitte, was im Regal steht.“ gelegentlich zutreffen kann. (Und vielleicht wird sich ja eines Tages sogar die Einsicht durchsetzen, daß Paradeiser ein Saisongemüse sind, dem man zu Hl. Drei Könige nur schwer geschmackliche Höchstleistungen abtrotzen kann.)

Beim Brot liegt die Sache komplizierter.

Denn wo einen beim Paradeiser schon die ostblockartige Monotonie eines Einheitsangebotes normgrosser, normfarbiger Früchte alarmieren konnte, da biegen sich die Brotregale der Backketten und Supermarkt-Frischaufbackwinkel unter einer auf den ersten Blick paradiesisch anmutenden Vielzahl an Broten mit phantasievollen Namen und Formen.

Aber leider isst das Auge lediglich mit; der eigentliche Verzehr dieser Prachtstücke lässt sich in der Regel nur in einem Zeitfenster von etwa acht Stunden nach Verlassen des Backofens einigermassen vertreten, und Vergnügen ist auch das eher keines.

Allerdings ist, zumindest in jenen ökonomischen Nischen, wo Bobos und Lebensmittelfreaks ihr natürliches Habitat haben, der Gegentrend zum kunsthandwerklichen Prestigebrot bereits unübersehbar.

Das sichtbarste Beispiel ist da vermutlich der Sturmlauf von „Joseph-Brot“, das sich binnen kürzester Zeit vermittels einer Kombination von bester Qualität und geradezu perfid zielgruppengenau zugeschnittenen Schlicht-und-Edel-Design als begehrter Lifestyle-Artikel etablieren konnte, sozusagen als das iPhone unter den Broten.

Dass dabei natürlich auch die altehrwürdige Marketing-Weisheit: „Wenn Du ein Produkt als hochwertig positionieren willst, schnalz zuerst einmal den Preis rauf“ beherzigt wird, kann man bedauerlich finden. Andererseits wäre noch vor zwanzig Jahren der Versuch, sich als Bäcker mit Qualitätsausrichtung selbständig zu machen, nicht viel aussichtsreicher gewesen als der, auf einem Hardrockfestival einen Stand mit Strickwolle zu betreiben.

Ich weiss das deshalb, weil mein Vater Ende der Achtziger vor der Alternative stand, entweder die sehr gediegene kleine Traditionsbäckerei zu übernehmen, in der er über zwanzig Jahre Herr der Backstube war, oder aber es zu lassen.

Eine realistische Kalkulation ergab rasch, dass sich das nur unter der Bedingung mit Ach und Krach rechnen würde, wenn eines der Kinder ebenfalls Bäcker würde, ein gewisser Selbstausbeutungsfaktor  also bereits eingepreist wäre.

Uns Kindern aber hatte der alltägliche Anblick eines um zehn Uhr abends seinen Frühstückskaffee trinkenden und untertags schlafenden Schwerarbeiters keinen gesteigerten Wunsch nach ähnlichem Lebenswandel eingeflößt, und so gab mein Vater, der gewohnt war, den Sendlingen der Backwarenindustrie: „Ich brauch nix, womit‘s schneller geht, kommen‘S wieder, wenn‘S was haben, womit‘s besser wird“ zu bescheiden, seinen Traum auf, wurde von einer miesen Großbäckerei übernommen und beruflich unglücklich für den Rest seiner Arbeitstage.

Allerdings gaben ihm die Entwicklungen der nächsten Jahrzehnte inhaltlich recht, Bäckereien verschwanden aus der urbanen Landschaft mit der gleichen schleichenden Selbstverständlichkeit wie der früher ebenfalls stadtbildprägende VW-Käfer.

Nur wenige Traditionsbetriebe haben das durch Effizienzsteigerung, Preisdumping und Kundenwurschtigkeit ausgelöste Kleinbäckereiensterben überstanden, ohne zumindest ihren Handwerksethos gegen eine Chance zum Weiterwursteln einzutauschen.

Aber einigen ist es doch gelungen, und ein besonders stattliches Exemplar dieser Gattung befindet sich in der idyllischen Kurrentgasse im ersten Wiener Gemeindebezirk.

Einer im Verkaufsraum angebrachten Tafel sind die Namen sämtlicher Inhaber seit 1536 zu entnehmen, die meisten davon sind als Bäckermeister ausgewiesen. Das gilt selbstverständlich auch für den derzeitigen, Herrn Andreas Maderna, der sich übrigens dafür entschieden hat, die von seinem Vater 1962 getroffene Entscheidung zu respektieren, den eingeführten Namen „Bäckerei Arthur Grimm“ beizubehalten, und der sich daher, wie schon dieser, mit grossen Gleichmut auch als „Herr Grimm“ ansprechen lässt.

Er erscheint, ein Mann von klassisch massiger Bäckerstatur, im Schmuck pumuckelroten Haares und angetan mit den Insignien seiner Zunft: Leiberl, kurze Hose und eine leichte Mehlpatina.
Wir haben uns erst um acht Uhr früh eingefunden, gar nicht, weil wir laxe Künstlertypen wären, sondern weil unser ursprünglicher Plan, eine normale Nachtschicht mitzuarbeiten, von Herrn Maderna mit dem ebenso höflichen wie einleuchtenden Hinweis darauf durchkreuzt wurde, dass während der Arbeitszeit gearbeitet werde und Zeit dabei ebenso Mangelware sei wie Platz. Immerhin ist so noch Zeit, Kaffee zu trinken, dem Sortiment erste Stichproben zu entnehmen und mit dem Herrn des Hauses zu reden.

Er erzählt vom neuen, unlängst erst angeschafften Backofen, welcher dreimal so teuer gewesen sei wie ein normaler.

Wenn man dann auf die Frage, was der denn könne, ein nonchalantes, aber mit Stolz unterfüttertes: „Nix.“ als Antwort bekommt, hat man auch schon eine erste Ahnung von der Firmenphilosophie: Hier wird gebacken, und zwar auf eine Art und Weise, die es vermutlich jedem der auf der Historientafel verzeichneten Bäckermeister leicht fallen liesse, sich im Fall einer zufälligen Wiederauferstehung in der Backstube zu orientieren. (Nützliche Neuerungen wie Teigrührmaschinen oder elektrische Backöfen werden von wiederauferstandenen Bäckermeister in der Regel begrüsst und schnell kapiert)
Ich oute mich sympathieheischend als Bäckerssohn, frage mich aber gleichzeitig, ob nicht ein Bäcker gewordener Bäckerssohn in einem nicht Bäcker gewordenen Bäckerssohn lediglich einen schwächlichen Deserteur sieht.

Falls dem so ist, lässt sich der Meister aber nichts anmerken, sondern sich stattdessen freundlich von uns ausfratscheln.

Den Anfang vom Niedergang der Bäckereikultur siedelt er in den frühen Siebzigerjahren an, als die automatische Semmelstrasse und mit ihr die zuvor unbekannte Maschinensemmel ihren Triumphzug antraten.

Eine Semmelstrasse ersetzte umgehend soviele Arbeitskräfte, dass sich die Anschaffung bereits nach einem Jahr amortisierte, eine Verlockung, die obendrein durch die damals noch bestehende Brotpreisbindung gesteigert wurde, die dafür sorgte, dass Handsemmeln und Maschinensemmeln gleich viel kosteten. Die logische Folge waren natürlich wahre Semmelüberschußlawinen und, nach Aufhebung der Preisbindung, die erste Etappe eines Preiskrieges, an dessen Ende fast nur noch Großbrotfabriken auf der verwüsteten Walstatt zurückblieben.

Im Wortsinn unterfüttert wird dieser Exkurs mit einer Handsemmel von idealtypischer Flaumigkeit. Im Zuge des Verzehrs erfahre ich leicht schockiert, dass die fünf Teile der Semmel korrekt „Laugen“ heissen und nicht, wie ich von klein auf zu wissen meinte „Zechen“.

Die Semmel ist auch ein geeignetes Einstiegsobjekt für die Zentralthemen „Zeit“ und „Gärung“. Zweitere braucht erstere, und das ist unter einem rein betriebswirtschaftlichen Blickwinkel schlecht. Während also eine Grimm-Semmel vor sich hin rastet, bis die Hefe ihre volumenstreibende Arbeit erledigt hat, wird die allseits beliebte Aufbacksemmel ehestmöglich eingefroren, was natürlich den Gärprozess zuverlässig killt. Deshalb wiegt eine Aufbacksemmel auch nicht die ca 48 Gramm einer Handsemmel, sonder 70 - 75, um auf das gleiche Volumen zu kommen, hat also den Vorteil, dass man für sein Geld schneller satt wird, solange man sich an kittartiger Teigkonsistenz und geschmacklicher Indifferenz nicht stösst.

Wir verzehren mit einer gewissen respektvollen Dankbarkeit den Rest unserer Handsemmeln, klopfen uns die Brösel ab und inspizieren das charmant altertümliche Brotregal des Verkaufsraums. Rund 70 Brotsorten werden hier verkauft, darunter auch etliche glutenfreie, eine Produktnische, die der Bäckerei Grimm zweifellos geholfen hat, das Bäckensterben durchzutauchen.

Allerdings gibt es nicht immer alles, dem von Andreas Maderna mit „Wer bremst, verliert“ beschriebenen Marketingdiktat, dass sämtliche Produkte prinzipiell bis Ladenschluss erhältlich sein müssen, verweigert man sich hier, was gelegentlich zu Irritationen bei nicht entsprechend sozialisierten Kunden führt. „Sicher gibts welche“, führt er aus, „die, wenn sie hören, das Baguette ist aus, perplex sind und sich denken: Was heißt, das Baguette ist aus? Dann soll der halt nach hinten gehn und noch eins holen!“

Dann beginnt der praktische Teil des Lehrausfluges, und wir gehen in die im Keller gelegene Backstube, um unter Anleitung ein Brot zu backen. Wir haben uns für das normale Hausbrot entschieden, das, ähnlich der Rindssuppe im Wirtshaus, quasi der Goldstandard des Bäckereiwesens ist und das auch trotz der Angebotsfülle das meistverkaufte im Betrieb ist.

Vorher gilt es aber noch einer Versuchung zu erliegen, es ist gerade Fasching und die noch warmen Krapfen - gefertigt aus einem Dampfl, das sechs Stunden Zeit zum Gehen hatte und gefüllt mit Marillenmarmelade von Staud - sind eben fertiggeworden.

Nun ist so ein eben gebackener Krapfen eine Angelegenheit von hinreissender, täuschend substanzlos anmutender Flaumigkeit.

Schlagartig erinnere ich mich sowohl daran, wie ich im Alter von zwölf oder dreizehn einmal in der väterlichen Backstube dieser Illusion erlag und eine gerade noch einstellige Anzahl frischer Krapfen fraß, als auch an das grimmige Leibschneiden, das mich den Rest des Tages heimsuchte, und belasse es massvoll bei zwei.

In der obligatorischen kurzen Hose betrete ich die Backstube und werde von einem weiteren Erinnerungsschub heimgesucht. Annähernd genau so sah die Stätte meiner Krapfenorigie aus: Die über Kopf verlaufenden Brotablagen, die Teigrühr- und Schleifmaschinen im zeitlosen Nachkriegsdesign, der Geruch, die Temperatur und die Stapel von „Simperln“ genannten Brotformen aus Peddingrohr (die allerdings heute lebensmittelrechtlich bereits idiotischerweise durch welche aus Silikon ersetzt sein sollten, in denen das rastende Brot nicht atmen kann).

Weiteres Erinnerungsschübe folgen: Es ist nach wie vor ein geradezu pervers sinnliches Vergnügen, einen Germblock in Grosshandelsgrösse mit der Hand zu zerbröckeln. Einen Teigbatzen im richtigen Gewicht zu erwischen, ist für den Ungeübten immer noch schwerer als man glauben möchte. Aus diesem Teigbatzen mit drei,- viermaligem Falten einen akkuraten Wecken zu formen erst recht. Es ist immer noch mit einem Gefühl unverdienter Wichtigkeit verbunden, einen Backofen mit Brotlaiben zu bestücken. Und es ist immer noch so, dass man auch nach dem Backen die Brote, die ich geformt habe, mit freiem Auge erkennen kann.

Dennoch durchflutet mich eine Welle reinen Handwerksstolzes, als ich mein mißgebildetes, an eine stattliche Melanzanifrucht erinnerndes Privatbrot in Ingo Pertramers Kamera halte. Vielleicht hätte ich ja doch nicht Kabarettist werden sollen.

Das Grimmsche Hausbrot entspricht dann übrigens natürlich geschmacklich den hochgesteckten Erwartungen. Es ist natürlich abgedroschen, die einfachen Genüsse zu loben, insbesondere in einem gehobenen Fressmagazin wie diesem.

Aber trotzdem: So wird das bescheidene Butterbrot wieder zu einem befriedigenden Genussessen. Vielleicht noch ein bisschen Salz drauf. Und, wenn gerade Saison ist, vielleicht einen Paradeiser.

Essen mit Maurer & Pertramer

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