Man kennt das ja: Kaum sieht man wen was machen, das außerhalb des eigenen Kompetenzkreises liegt, denkt man auch schon: „Das will ich auch können!“

Dieser nicht durch Missgunst getrübte Neid ist eigentlich etwas Schönes, weckt er doch den Wunsch, die eigenen Grenzen zu erweitern und es eines Tages dahin zu bringen, dass man auch so schön Gitarre spielt wie Jack White, so burlesk lässig Leute zusammenfaltet wie Jackie Chan oder so saucool hinten stehend auf dem orangen Mistauto mitfährt wie die diesbezüglich privilegierten Magistratsbediensteten.

Natürlich wird aus diesen Selbstoptimierungsplänen in aller Regel nix, aber wer noch Träume hat, hat dafür ja bekanntlich sowas wie ein zusätzliches privates Bonusleben.

Als Angehöriger des Jahrgangs 1967 kann ich mich ans Aufkommen des Pizzaessengehens als Freizeitbeschäftigung noch einigermaßen erinnern.

Pizza essen gehen war damals noch so was Ähnliches wie Chinesisch essen gehen, etwas für Weltoffene und verwegene Freigeister, die mit geheuchelter Selbstverständlichkeit eindeutig ausländische Nahrung zu sich zu nehmen bereit waren. Um einen ähnlichen Effekt zu erzielen, müssten heute, wo die Verleberkässemmelung der Pizza ungeahnte Ausmaße erreicht und jeder bessere Marktflecken ein srilankesisches und/oder mexikanisches Lokal aufzuweisen hat, vermutlich Außerirdische landen und durch eine Klappe im Raumschiffheck einen Take-away-Imbisss mit heimischen Spezialitäten eröffnen.

Meine ersten Pizzeriabesuche boten mir jedenfalls gleich zwei Anlässe, das erwähnte „Das will ich auch können!“-Gefühl zu entwickeln.

Den ersten Wunsch, nämlich die Fähigkeit zu besitzen, eine Portion richtig lange Spaghetti mit Bolognesesauce essen zu können, ohne anschließend das Hemd wechseln und das Gesicht waschen zu müssen, habe ich inzwischen als in diesem Leben nicht mehr erfüllbar abgehakt.

Den Zweiten aber flößten mir die diversen Pizzabäcker ein, die mit spielerischer Italianitá mollige Teigkugeln zu im Idealfall hauchdünnen und kreisrunden Scheiben durch die Luft jonglierten. „Schaut super aus“, dachte ich mir. „Will ich auch können.“

Jahrzehnte sind seither vergangen. Aber nun ist der Tag gekommen.

Das Ristorante Pizzeria „Il Tavoliere“ liegt in der Goldschlagstraße und somit in einer Gegend des Fünfzehnten Bezirks, wo der gute, alte Substandardgrind der bereits angelaufenen Gentrifizierung noch eine verbissene, aber absehbar aussichtslose Abwehrschlacht liefert.

Hier wirkt seit nunmehr sechs Jahren Ivan Mascia, ein freundlicher, knapp untermittelgroßer Mann mit akkurat ausrasiertem Bart, der trotz seines an Borschtsch und Blinis gemahnenden Vornamens Italiener ist, genauer: Apulier aus Castelnuovo della Daunia.

Im Laufe dieser Jahre ist das „Il Tavoliere“ auch allmählich über seine ursprüngliche lokale Funktion als klassischer Italiener am Eck hinausgewachsen und in den Aufmerksamkeitsfocus jenes Essengeh-Auskenner-Segments gerückt, das sich gelegentlich gern eine Auszeit von den jeweils angesagten Futter-Hotspots nimmt.

Dazu trägt zweifellos auch die Innenausstattung des Lokals bei, die man wertfrei als sehenswert bezeichnen kann. Neben schwarzen Stühlen aus den Achtzigerjahren – bekanntlich eine Epoche, in der die Designer noch so richtig designmäßig designt haben – wird der Gesamteindruck vor allem von den Wand- und Deckendekorationen bestimmt.

Sowohl Artikel über das Restaurant als auch Abbildungen klassisch apulischer (Castel Monte) bzw. gesamtitalienischer (Leonardos „Letztes Abendmahl“ in A4) Sehenswürdigkeiten wurden zu Verschönerungszwecken herangezogen, dafür allerdings nicht wie weithin üblich schnöde verglast und aufgehängt, sondern direkt an der Wand befestigt, und zwar mit je einem dicken Mörtelwulst, der so auch gleich einen apart rustikalen Rahmen bildet.

Dass die dabei angestrebte Anmutung jene von Wandmalereien sein soll, ist mehr als eine Vermutung, denn bekrönt wird das ganze von einem leibhaftigen Deckenfresko, das der Künstler – ansonsten punkto Farb­auftrag und freier Interpretation anatomischer Gegebenheiten durchaus modern agierend – als Hommage an das klassische Michelangelo-Motiv gestaltet hat, bei dem der liebe Gott mit kraftvoll erigiertem Zeigefinger den Lebensfunken an Adam weitergibt.

In diesem Ambiente serviert Herr Mascia mittlerweile überwiegend Fisch (Signature Dish ist das am Tisch zubereitete Branzino-Carpaccio), aber auch spezifisch apulische Lokalspezialitäten (gelegentlich gibt es sogar die klassische Roulade vom Pferd) sowie, und deshalb sind Ingo Pertramer und ich heute da, eben Pizza.

Herr Mascia ist nämlich nicht einfach ein Koch, der halt auch Pizzen in den Ofen schiebt, sondern diplomierter Pizzaiolo. Und als wäre das nicht genug: Der Mann war Pizzaiolo-Europameister! Diese Ehrung wurde ihm, nachdem er sich in San Severo gegen vierzig Mitbewerber durchsetzen konnte, von der Vereinigung Manifestazione Enogastronomica Europea verliehen; die dazugehörige Urkunde kann man im Lokal einsehen.

Zwar ahnte ich bis unlängst noch nicht einmal, dass solche Meisterschaften überhaupt ausgetragen werden, aber einen waschechten Europameister auch nur kennenzulernen, geschweige denn von ihm in seinem Fachgebiet unterwiesen zu werden: Das ist schon nicht nichts.

Folgerichtig bin ich begierig, mehr über die internationale WettkampfPizzaiolo-Szene zu erfahren. Und lerne, dass es bei einer solchen EM Einzel- und Mannschaftswettbewerbe gibt, die ihrerseits wieder in folgende Kategorien gegliedert sind: Pizza Classica, Pizza Integlia (Blechpizza), Pizza Metro (rechteckige, einen Meter lange Pizza). In diesen Kategorien werden Form, Optik, Geschmack und Konsistenz bewertet.

In Herrn Mascias Königsdiziplin aber, Pizza Aerobatica geht es ausschließlich darum, die akrobatischen Leistungen des Pizzaiolos beim Manipulieren des Teiges zu würdigen.

Eine anschließende Verkostung solchermaßen entstandener Pizzafladen ist gar nicht erst vorgesehen, da der Teig von Aerobatica-Pizzen aus Stabilitätsgründen nach einer Spezialvariante des Grundrezepts gefertigt ist, deren Details natürlich streng geheim sind, in der aber generell jeweils weniger Germ und mehr Salz für die gesteigerte Kompaktheit sorgen dürften.

Ein kleiner Wermutstropfen für Pizzaiolo-Meisterschafts-Afficionadas scheint allerdings zu sein, dass es eine Vielzahl an Vereinigungen gibt, die jeweils eigene Champions küren, was das Verfolgen dieser Bewerbe annähernd so mühsam und ärgerlich machen dürfte wie man das ja vom Profiboxen und seinem notorischen Verbändewildwuchs kennt.

Erlernt hat mein angehender Ausbildner die Kunst des akrobatischen Pizzabodenformens seinerseits bei keinem Geringeren als Marco Francavilla, der in Pizzaiolo-Wettkampf-affinen Kreisen einen offenbar legendären Ruf genießt und in dessen Team Ivan Mascia 1994 bei der in Mailand ausgetragenen Campione del Mondo in der Disziplin Freestyle antrat.

Und Blut leckte.

Und jetzt, nach ein wenig Plaudern und Espressotrinken, geht es auch für mich los.

Und zwar gleich mit einer unverdienten Ehre: Ich darf die offizielle Trainingsjacke des Teams überstreifen, das Ivan Mascia einst daheim rings ums familieneigene Ristorante „Mamir“ gründete. (Genauer gesagt hatte er zwei Teams: ein normales und eines für Kinder. Ich bekomme aber eine Jacke für Erwachsene.)

Auf die unverdiente Ehre folgt eine gelinde Überraschung: Zwar werde ich, wie angekündigt, in die Grundlagen des Pizza-Rotierenlassens eingeführt, aber anders als ich mir das vorgestellt hatte.

Ähnlich wie ja zum Beispiel auch angehende Jetpiloten nicht gleich einmal zu Übungszwecken mit dem Jumbo losbrummen dürfen, bekomme ich etwas in die Hand gedrückt, von dem ich noch nie gehört habe, dessen schiere Existenz mich aber sofort entzückt: einen Pizzasimulator.

Darunter hat man sich einen weißen, aus zwei aneinandergenähten Stofflagen bestehenden Kreis von pizzagroßem Durchmesser vorzustellen, der vor seinem Einsatz noch feucht gemacht wird und so in Gewicht und aerodynamischem Verhalten nahe an sein Germteigvorbild herankommt.

Wohl um mir zu suggerieren, dass das Ganze kinderleicht sei, schnappt sich gleich einmal Ivans elfjähriger Sohn Mario einen feuchtschlaffen Stoffkreis, lüpft ihn mit einer merkwürdigen Schraubdrehung, die das Tuch durch die Rotation waagrecht ausbreitet, in die Luft und lässt es dann dort nach Belieben in die Luft steigen oder auf der Hand kreisen.

Er habe, erzählt er, zwar selbst noch nie an einem Pizzaiolo-Wettkampf teilgenommen, würde das aber gern einmal tun und übe bis ­dahin regelmäßig. (Und tatsächlich trägt sich sein Vater bereits mit dem Plan, auch in Wien ein Erwachsenenteam sowie – systematische Nachwuchspflege ist bekanntlich das Wichtigste im Sport – eines für Kinder zu gründen. Möglich also, dass in nicht allzu ferner österreichischer Zukunft Schifahren nicht mehr die einzige Disziplin sein wird, in der die großen, fürs Schöne begnadeten Töchtersöhne unserer Heimat Lorbeer erringen.)

Marios regelmäßige Übung fehlt mir, als ich ebenfalls mit dem mir ­zugeteilten Stoffkreis zu hantieren beginne, unübersehbar.

Ich brauche bereits eine Runde abstrakt-analytischen Nachdenkens, um überhaupt den notwendigen Bewegungsablauf zu analysieren: Tuch auf den nach oben weisenden Handteller legen, dann die Hand in einer seltsam unorganisch anmutenden Bewegung erst 180 Grad über innen nach außen und dann nach oben drehen, ungefähr so, als würde einem ein unsichtbarer Jiu-Jitsu-Kämpfer gerade für einen Festhaltegriff das Handgelenk verdrehen, dann noch, kurz bevor der Arm gestreckt ist, einen kleinen Aufwärtsimpuls geben, und schon schwebt die Scheibe elegant UFO-haft empor, um sich gleich darauf mit der Zutraulichkeit eines zahmen Vogels wieder auf die Hand zu senken, einen neuen Aufwärtsimpuls zu empfangen und so weiter. Theoretisch.

Praktisch habe ich den Eindruck, aufgrund der zigfach wiederholten merkwürdigen Aufwärtschraub-Handgelenksverdreh-Bewegung bereits eine Sehnenscheidenentzündung auszubrüten, ehe mein Trainingsfetzerl erstmals einigermaßen manierlich abhebt und wieder landet. (Das Aufrechterhalten des Drehimpulses ist dann übrigens nochmal eine andere Herausforderung.)

Dennoch erklärt mich Herr Mascia flugs für tauglich, mich am „real stuff“ zu versuchen.

Und tatsächlich kann ich angehenden Pizzaiolos das Trockentraining am Simulator wärmstens ans Herz legen: Hätte ich so häufig Teigfladen fallen lassen, wie ich mich nach dem Fetzerl bücken musste, wäre ich vermutlich umgehend als abschreckendes Beispiel sinnloser Lebensmittelvergeudung auf der Facebookseite einer Umweltschutzorganisation ­gelistet worden.

So aber geht’s. Es geht mehr schlecht als recht, aber es geht.

Meine Fladen rotieren zwar tendenziell senkrecht oder mit rund 45-gradigem Schiefstand anstatt waagrecht, aber immerhin rotieren sie. Ich kann sie hochlüpfen und wieder auffangen. Meistens.

Herr Mascia jedenfalls lobt enthusiastisch meine erstaunlich raschen Fortschritte.

Aber ich bin nicht umsonst Vater dreier Kinder und erkenne den Tonfall: Es ist genau jener Sound alarmierend aufrichtiger Herzlichkeit, in welchem ich selber auch vom Nachwuchs fabrizierte eiermäßige Fußballschüsse, verschmierte Filzstiftabbildungen grotesker Kopffüßler oder selbstgetöpferte, bösartigen Tumoren ähnelnde Vasen als unerhört brillant abzufeiern pflege.

Mario jedenfalls schupft, während ich verbissen versuche, ein wenig Lockerheit in meinen Bewegungsablauf zu bekommen, seine Pizzen von Hand zu Hand oder spielt sie sich gleich im Doppelpass-Spiel mit seinem Vater wechselseitig zu. Der wieder zeigt dann noch vor, wie man eine Pizza im Stehen, im Liegen, zwischen den eigenen Beinen durch oder über den eigenen Nacken hinweg rotiert. Das probiere ich gar nicht erst.

Nach den beschwerlichen ersten Schritten zum Pizzaiolotum winkt mir aber nun die abschließende Belohnung: Pizza, was sonst.

Ich begebe mich mit dem Chef zum Ofen (zu seinem stillen, aber finanziell induzierten Leidwesen kein gemauerter zum Befeuern, sondern ein Elektrogerät) und beginne für heute zum letzten Mal, die Teigkugel zum Kreis und diesen zum Fliegen zu bekommen. Und obwohl ich nicht sicher bin, ob mein eigener Anblick seinerzeit mir selbst die Idee eingegeben hätte, das in dieser Form ebenfalls können zu wollen, bin ich einigermaßen stolz, dass ich’s einigermaßen kann.

Der Chef erkennt offenbar ein erstes enthusiastisches Funkeln in meinen Augen und beschenkt mich noch spontan mit einem originalen Pizza­simulator, den ich beschämt und gerührt entgegennehme, und dann gibt’s auch schon Essen.

Die Pizza – einmal mit Steinpilzen, einmal mit pikanter Salami – ist dann übrigens, Elektroherd hin oder her, ziemlich idealtypisch.

Satt und zufrieden verabschieden wir uns, Pizza im Bauch und im Kopf die allerdings sehr vage Idee, im Falle des Zustandekommens eventuell in Ivan Mascias Akro­batenmannschaft anzuheuern.

Immerhin: Ein „Das will ich auch können!“-Wunsch wäre wieder von meiner Liste gestrichen, wenn auch das „Können“ in Anführungszeichen gut untergebracht ist.

Vielleicht besuche ich ja als nächstes ­eine Raumstation. Die Idee, bei Schwerelosigkeit Sex zu haben, geht mir nämlich seit „James Bond – Moonraker“ nicht mehr aus dem Kopf.

Il Tavoliere
Goldschlagstraße 34
1150 Wien
Tel.: 01/923 09 44

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