Um den Wiener Stadtteil Stadlau so richtig als Idylle zu empfinden, muss man entweder lokalpatriotischer Stadlauer oder ironiefähiger Postmodernist sein.

Schmucklose Industriebauten, thujenumsäumte Einfamilienhauszeilen und an mehrspurigen Autobahnausfahrten gelegene Gründerzeitblöcke prägen diese Stadtlandschaft; weiter draußen, wo der Blick bereits gelegentlich in die mit Starkstrommasten aufgelockerte Weite der pannonischen Ebene schweifen kann, stößt man dann auf versprengte Dorfüberbleibsel nebst Feldern und Glashäusern, kontrastiert von einem architektonischen Überblick über die Wiener Gemeindebauarchitektur der letzten paar Jahrzehnte.

In diesem in seiner schroffen Inhomogenität dann doch schon wieder beinahe idyllischen Habitat befindet sich die Gärtnerei Bach, und es passt durchaus ins kontrastreiche Bild, dass Eveline und Mario Bach, die Besitzer und Betreiber, weder wie rotwangige Strohhut-Gärtner aus der Tiefkühlgemüsewerbung noch wie in Schlosseroveralls gehüllte Lebensmittelindustrie-Lieferanten wirken, sondern eher, als hätten sie sich im Zuge der Arena-Besetzung kennen gelernt und danach ein alternatives Kulturzentrum aufgemacht.

Tatsächlich aber steht Eveline Bach dem Betrieb bereits in vierter Generation vor, ihr Gatte Mario ist nach einem durchaus unhippiesken Ausbildungs-Werdegang (HTL-Tiefbau und Volkswirtschaft) quer eingestiegen.

Richtig typisch ist die Gärtnerei aber tatsächlich nicht, vor allem weil ihr mittlerweile ein Ruf vorauseilt, der es den beiden ermöglicht, ihre Produkte nicht an den Handel zu verkaufen, sondern an dieser eher nicht mit Laufkundschaft gesegneten Ecke der Stadt (immerhin liegt aber die derzeitige U2-Endstation Aspernstraße neuerdings in bequemer Gehweite) ausschließlich vom Direktverkauf zu leben. Und das, ohne auch nur irgendwo einen Bauernmarktstand zu betreiben.

Folgerichtig kann das geschulte Auge in den Arbeitsräumlichkeiten auch Bestellzettel entdecken, denen zu entnehmen ist, was beispielsweise im Freyenstein, bei Mraz oder im Steirereck dieser Tage so auf der Gemüsekarte steht.

Auf die im High-End-Lebensmittelbereich vermeintlich obligatorische Biobewertung verzichtet man hier dennoch, was der sich gerne wie geläufig artikulierende Mario Bach folgendermaßen erläutert: „Bio heißt ja Leben, das heißt, mit dem Zertifikat sichert man einmal das Leben des bürokratischen Apparats, der das alles verwaltet.“

Außerdem sei ja beispielsweise im Wald gejagtes Wild im Gegensatz zu im Gehege mit Biosoja aufgezogenem ebenfalls nicht bio, für Waldpilze- und Himbeeren gelte das gleiche, und überhaupt komme man mit dem eigenen Qualitätsanspruch gut über die Runden, danke der Nachfrage.
Arbeiten würde man allerdings altmodischerweise grundsätzlich in Erde, weil man an den in Fremdsubstrat mit computergesteuerten Dünge- und Bewässerungsprogrammen erreichbaren Quantitätssteigerungen einfach nicht interessiert sei und überhaupt der ganze Betrieb sich seit Jahren kontinuierlich in Richtung botanischer Vielfalt und Feinspitzversorgung entwickle.

Am Zweitstandort Essling kultivieren die Bachs übrigens eine ganz besondere Spezialität für ganz außerordentlich heikle Esser: Hier wird die eiserne Eukalyptusreserve für die Schönbrunner Koalas gezogen; selbstverständlich in gut einem Dutzend Sortenvarianten. Eine konsequente Slow-Food-Versorgung dieser Tiere aus regionalem Anbau ist zwar wegen deren erheblicher Gefräßigkeit nicht möglich, aber wenn der übliche Luftimport abreißt, weil z. B. irgendwo ein Vulkan rülpst oder ein Fluglinien-Management eine Belegschaft zum Streik reizt, kann von hier aus umgehend Nachschub bezogen werden.

Das mit der Spezialisierung sei, führt Mario Bach weiter aus, im Lauf der letzten zehn, fünfzehn Jahre auch ein bisserl passiert. Zum einen wollte man sich ohnehin schon vom genormten Lebensmittelhandelzulieferer wegentwickeln, zum anderen sei etwa zeitgleich Heinz Reitbauer sen. auf der verzweifelten Suche nach Pilzkraut über einen gestolpert, und so habe eins das andere ergeben, und schließlich mache es ja, neben dem Spaß am Raritäten-Großziehen, auch Freude, ein Netzwerk von Kulinarikfreaks mit mexikanischem Pfefferblatt oder Trip-Madame-Pflänzchen zu versorgen.

Momentan habe man etwa rund 70 Paradeissorten im Angebot, über 100 Chilis, gut 30 Melanzanivarianten und zirka ein Dutzend Gurken, darunter absolute Exoten wie die Weiße Gargano oder die Luffa-Gurke, deren faseriges Inneres man normalerweise nur im Reformhaus als Naturschwamm zu Gesicht bekomme, die aber jung geerntet sehr schmackhaft sei, zumindest habe man ihm das erzählt, denn er persönlich hasse den Verzehr von Gurken annähernd so leidenschaftlich wie er ihre Kultivierung liebe.

Gebannt hänge ich an den Lippen des Mannes, schließlich bewundere ich grundsätzlich Menschen, die Dinge können, die ich auch gerne können würde. Das Gärtnern ist diesbezüglich bei mir eine besonders weit offene Wunde, und das nicht erst, seit sich in der Spitzengastronomie der bekannte Paradigmenwechsel zu vollziehen begonnen hat und die in Ziegenbutter geschmorte Mairübe vom Oberkellner mit dem gleichen vornehm gezügelten Stolz präsentiert wird wie weiland die wild geangelte Seezunge im Belugafond, deren Verzehr man zunehmend neureichen Russen überlässt, die es halt nicht besser wissen.

Der daraus resultierende allgemeine Gemüseneid ist das eine, noch einmal was anderes ist aber, dass das launenhafte Schicksal über den Weg intensiver innerfamiliärer Zurede vor knapp einem Jahr ausgerechnet aus mir einen Kleingartenpächter gemacht hat.

Als Linkshänder kann ich über den Vorwurf, zwei linke Hände zu haben, stolz hinwegsehen. Eher schon nage ich an der Tatsache, dass sich offenbar an keiner davon ein grüner Daumen befindet.
In meiner ersten eigenen Wohnung befand sich ein schwindsüchtiger Ficus, den ich von der Vormieterin übernommen hatte.
Ich taufte das Gewächs „Schurli“ und goss es, wann immer es mir nötig schien. Die Tatsache, dass es über Jahre hinweg die immer gleichen drei kümmerlichen Blätter trug und auch keinen Millimeter wuchs, betrachtete ich als eine Art individualistische botanische Schrulle, auf die ich Gäste gelegentlich humorig hinwies.

Bis eines Tages meiner Mutter, die mich besuchen gekommen war, der Geduldsfaden riss und sie Schurli im Zuge eines humanitären Einsatzes kidnappte und in ihren Wintergarten entführte.
Als ich dort einige Wochen später zu Gast war, erkundigte ich mich pflichtschuldig nach dem Wohlergehen meines Kostgängers. Ein kunstvoll verhaltenes Kopfnicken lenkte meinen Blick auf einen kleinen, adretten, im Schmuck saftiggrünen Laubes glänzenden Baum. Es war wie in einem Märchen der Gebrüder Grimm: Irgendwie hatte meine Mutter den Fluch von Schurli genommen, und jetzt war er ein Prinz.

Stolz nahm ich die auf „Hoheit“ umgetaufte Pflanze wieder mit heim und richtete ihr einen Ehrenplatz ein, an welchem sie umgehend in mit freiem Auge wahrnehmbarem Tempo wieder zu ihrem früheren Selbst zu schrumpfen begann. Kein Monat war vergangen, und der gute alte Schurl war wieder da und reckte erneut seine bewährten drei Blätter anklagend Richtung Plafond.
Ich begnadigte Schurl in Mutters Wintergarten und nahm die Tatsache, dass ich eben „irgendwie nicht so der Pflanzentyp“ sei, in mein Persönlichkeitsprofil auf.

Soziale Nachteile erwuchsen mir daraus keine, die Menschen meines jugendlichen Umfeldes waren auch durch die Bank eher welche, denen die Hanfpflanzen, Psychopilzkulturen und Teufels-Chili-Töpfchen mit schöner Regelmäßigkeit verreckten und die sich damit abgefunden hatten, dass das einzige Grün in der Wohnung in Gestalt gelegentlichen Schimmels in vergessenen Joghurtbechern auftritt.

Und auch wenn ich es im Weiteren immerhin so weit brachte, Topfkräuter auf der Fensterbank tagelang am Leben zu halten: Nichts in meinem Leben hatte mich darauf vorbereitet, eines Tages mit einem Spaten in der Hand im eigenhändig gepachteten Kleingarten zu stehen und mit der Frage konfrontiert zu sein, was und wo ich jetzt womit anfangen soll.

Folgerichtig hatte die Vereinbarung, mich hier aus Recherchegründen einen Tag im Rahmen meiner Möglichkeiten nützlich zu machen, meinerseits einen Aspekt von Werksspionage, weshalb ich mich nach dem Einführungsvortrag mit einer gewissen Vorfreude auf den Weg zum praktischen Teil mache. Davon, dass ich insgeheim befürchte, Pflanzen durch einfaches Berühren töten zu können, sage ich sicher-
heitshalber nichts.

Am Weg zu den Glashäusern zeigt uns Mario Bach noch mit süß-säuerlichem Stolz das Motorrad, auf das er lange gespart habe und das dann aus betrieblichen Gründen leider doch als professionelle Eintopfmaschine zur Welt kam. So viel zur Ertragslage eines gefragten Spitzengärtnereibetriebs.
Das erste Glashaus beherbergt vorwiegend Kräuter und erweist sich folgerichtig als einer der wohlriechendsten Orte der Stadt. Besonders balsamisch schnuppert sich die Luft rings um die Duftpelargonien, von denen wir auch prompt ein paar kosten dürfen. (Ich hatte keine Ahnung, dass die essbar sind.)

Weiter geht es unter anderem mit würzigen Speisetagetes (ich hatte keine Ahnung, dass es den gibt), den feinscharfen Blättern des roten Riesensenfs (ebenfalls) und ein wenig duftiger Perillia (schon gar nicht).
Danach wollen natürlich die verschiedenen Basilikumvarianten miteinander verglichen werden, doch -bevor Ingo Pertramer und ich betriebswirtschaftlich relevante Fraßschäden an den Kräuterbeständen anrichten können, geht es dann aber doch in das große, luftige Tomatenglashaus, in welchem kürzlich der Chef persönlich durch handgefertigte Dämmungen den Energieverbrauch drastisch reduziert, durch Verlegung der Tröpfchenbewässerung den Wasserverbrauch gesenkt und durch das Einquartieren von Erdhummeln die Befruchtung naturnah optimiert hat.

Den zwanghaften Vergleich mit den unkrautüberwucherten eineinhalb Beeten meines eigenen Gartens versuche ich während dieser Erläuterung nach Kräften zurückzudrängen.
Nach einer kurzen Einweisung (Paradeiser und Gurken wickelt man im Gegensatz zu Bohnen im Uhrzeigersinn um die Rankhilfe) beginne ich, Pflanzen längs des Stützfadens hochzuwinden und den einen oder anderen Geiztrieb abzuzwicken, eine vom relativ zügig einsetzenden Kreuzweh abgesehen recht meditative Arbeit, in deren Verlauf sich die Hände dicker und dicker mit einer interessanten, vielschichtigen, braungrünen Zusatzhaut überziehen, die man übrigens, man lernt nie aus, am schnellsten mit aufgeschnittenen grünen Paradeisern wieder abbekommt.

Im Weiteren assistiere ich noch beim Tomatenpflänzchensetzen (Kreuzweh ohne meditatives Vergnügen) sowie bei der Ernte von ein paar Kisten Kohlrabi und Spinat; Gemüsen, mit denen ich mich beinahe auskenne, weil ich sie im Vorjahr immerhin selbst gesetzt habe. Die geraden Reihen mit strotzend saftigen Knollen bzw. Blättern entsprechen ziemlich exakt dem feuchten Erntetraum, den ich damals hatte, mit dem Unterschied, dass ich mit dem Ertrag meines Beetes allenfalls ein Nacktschneckenragout hätte zubereiten können.

Aber so, inmitten vorschriftsmäßig gewachsener Prachtpflanzen, macht das Ernten beinahe so viel Spaß wie ich mir das vorgestellt hätte.
Augenblicklich versinke ich in Tagträumen, in welchen ich Gästen im Vorübergehen prachtvolle, täuschend beiläufig aus der Erde gezogene Kohlrabi anbiete und wie zu mir selbst murmle: „Da schau her, der Speisetagetes ist auch schon so weit … Mag jemand ein paar Luffa-Gurken? Ihr werdet’s die wahrscheinlich nur als Schwamm kennen, aber jung geerntet sind sie herrlich.“
Ein freundliches „Gibt’s noch Fragen?“ reißt mich aus dieser wollüstigen Phantasie. Ich beschließe, die unerfreuliche Schlussfolgerung, zu der ich im Verlauf des Tages gekommen bin, nach klassischer „Was-bin-ich?“-Manier als Frage zu verkleiden: „Gehe ich recht in der Annahme“, frage ich also, „dass es so was wie den berühmten grünen Daumen gar nicht gibt, sondern nur Leute, die zu faul sind, sich um ihre Pflanzen zu kümmern, und andere, die das nicht sind?“
„Im Prinzip ja“, lautet die Antwort.
Ich habe es befürchtet.

Ingo verstaut seine Kamera, wir decken uns im Laden noch mit sensationell gutem Salat und extraknackigen Minigurken ein, und ich kündige an, nach den Eisheiligen Salat- und Paradeispflanzen, Kräuter, Erdbeeren, Tagetes, Pelagonien und sonst noch was kaufen zu kommen.
Dann treten wir vor die Tür.

Vor mir liegt Stadlau. Und ein Sommer voller Gartenarbeit.

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